9 Tipps für Studierende mit Sehbehinderung
2021-11-18 | Von Orcam Staff
Ob Lesen oder Laborarbeit – Ein Studium ist seit jeher eine stark visuelle Angelegenheit. Nicht alle Universitäten und Lehrkräfte sind auf die besonderen Bedürfnisse von sehbehinderten Studierenden eingestellt. Doch Studieren mit Blindheit ist trotzdem lohnend und machbar, wenn man ein paar Tricks kennt.
1. Wichtige Grundsatzfragen klären:
Wenn man blind studieren möchte, sollte die Motivation klar sein. Schon als Sehender ist ein Studium anstrengend und für Menschen mit Sehbehinderung gilt dies in vieler Hinsicht erst recht. Mehr Organisation, mehr Zeitaufwand, aber auch viel Freude und Selbstverwirklichung. Da ein Studium besonders für blinde Studierende sehr viel mit Selbstorganisation und ständiger Eigeninitiative zu tun hat, sollte man sich fragen, ob dies zu einem passt. Denn Dinge, die für Sehende eine Kleinigkeit sind, müssen sich Studentinnen und Studenten mit Sehbehinderung aufwändig erarbeiten.
Ein weiterer Punkt ist die Wahl der Studienrichtung. Bei Studiengängen, in denen viel Laborarbeit nötig ist oder die eher praktisch ausgerichtet sind, wird es schwierig. Studiengänge wie Jura oder Politikwissenschaften, in denen das Lesen und die Theorie im Vordergrund stehen, sind hingegen auch bei blinden Studierenden sehr beliebt und heute machbar.
2. Die richtige Uni finden:
Immer mehr Universitäten stellen sich besser auf blinde Studierende ein. In Berlin gibt es 4.000 blinde Menschen an der Freien Universität und auch in Kassel, Siegen oder Köln ist man darauf eingestellt. Die Lieblingsuniversität der blinden Studenten ist jedoch Marburg. Jeder dritte blinde Student hat sich für Marburg entschieden, denn Stadt und Campus sind auf Nichtsehende spezialisiert. Das gilt in ähnlichem Maße auch für Karlsruhe, Dresden und Dortmund.
3. Das Wichtigste zuerst: Kommunikation und Eigeninitiative
Immatrikuliert: Jetzt geht es los und beginnt mit der Beantragung von Studienassistenzen. Ohne sie ist das Studium als Blinde(r) fast nicht möglich. Die meist sehenden Studierenden helfen bei der Orientierung und kümmern sich um alle wichtigen Belange, wie Scannen von Unterlagen und formalen Angelegenheiten.
Für das erfolgreiche Studium gibt es jedoch noch andere Herausforderungen. Viele Lehrkräfte sind auf sehbehinderte oder blinde Studenten nicht eingestellt. Es ist also sehr wichtig, das Gespräch mit Professoren, Dozenten und der Universitätsverwaltung zu suchen und auf die Sehbehinderung aufmerksam zu machen. Das betrifft auch die Bedürfnisse und Schwierigkeiten, beispielsweise mit PowerPoint-Präsentationen oder anderen visuell ausgerichteten Lehrmitteln, die für Blinde vorher erst gescannt werden müssen.
Für Seminare ist es wichtig, dass Lehrende den Namen des Studierenden mit Sehbehinderung kennen, denn sonst kann man nicht angesprochen werden, wenn man sich meldet.
4. Die Orientierung auf dem Campus
Schon sehende Studierende irren auf einem neuen Campus oft umher, um einen bestimmten Raum zu finden. Auch als blinder Mensch ist man auf einem großen Campus schnell verloren und braucht Hilfe, sich zurechtzufinden. Die bekommt man durch einen Blindenhund, Studienassistenten, Mitstudierende oder auch Assistenzsysteme für Blinde, wie in Marburg.
Als Starthilfe sollte man ein Mobilitätstraining beantragen, das gezielt erst einmal hilft, die wichtigsten Orte auf dem Campus kennenzulernen. Da dies aber immer bei verschiedenen Stellen beantragt werden muss, helfen sehende Kommilitonen sicher gern. Mit der gewonnenen Selbstständigkeit, sich auf dem Campus und in einer neuen Stadt zurecht zu finden, schwindet meist auch das Gefühl der Hilflosigkeit.
Helfen kann hier auch eine OrCam MyEye die oft von den Krankenkassen bewilligt wird. Das kleine Gerät wird an einer Brille befestigt und kann die Orientierungsschilder auf dem Campus lesen, Gesichter erkennen, Raumnummern scannen und vieles mehr Dazu ergänzend gibt es in Marburg Bodenrillen auf den Wegen, Lagepläne zum Fühlen und sprechende Aufzüge. Auch einige Raumnummern und alle Kaffeemaschinen sind mittlerweile mit Blindenschrift ausgestattet.
5. Höheren Zeitaufwand einplanen
Als blinder oder sehbehinderter Mensch zu studieren, bedeutet einen deutlich größeren Zeitaufwand, als es bei Sehenden der Fall ist. Allein für die Bewältigung und Vorbereitung der Literatur für Seminare, aber auch bei Prüfungen oder Klausuren, muss man ca. 30%-50% mehr Zeit einplanen. Eine Hausarbeit in 14 Tagen zu schreiben, ist fast nicht möglich. Auch hier ist es sinnvoll, früh mit der Literaturrecherche zu beginnen und mit den Dozentinnen und Dozenten zu sprechen. Als blinder Studierender erhält man meist um die 14 Tage mehr Zeit, aber auch dieser Zeitraum ist nicht leicht einzuhalten ohne gute Vorbereitung.
Auch bei Prüfungen ist der Mehraufwand vorhanden und muss kommuniziert werden. Denn damit ein Blinder eine Prüfung schreiben kann, muss sie im Normalfall digitalisiert werden. Dann bekommt man sie als USB-Stick für den Laptop und speichert die Ergebnisse, wenn man fertig ist. Die Prüfungen schreiben Blinde nicht mit Sehenden zusammen, da sie ihre Assistenzsysteme nutzen dürfen.
Da man als Studierender mit Sehbehinderung langsamer vorankommt, werden die Regelstudienzeit und das Bafög anders gehandhabt. Doch auch hier sollte man immer wieder auf die besondere Studiensituation aufmerksam machen.
6. Der Universitätsalltag
Im Universitätsalltag ist sehr viel Eigeninitiative gefordert. Das beginnt schon mit der Literatur, die von den Lehrenden oft als Reader für das ganze Semester zusammengestellt wird. Hier muss darum gebeten werden, dass man ihn schon im Vorfeld bekommt, da die Aufarbeitung meist sehr zeitaufwendig ist, damit die OCR-Software sie lesen kann. Um hier Abhilfe zu schaffen, gibt es in Marburg Vorlesekräfte. Da diese auch nicht immer verfügbar sind, bietet die OrCam MyEye auch hier die Möglichkeit, sich zeitlich und örtlich unabhängig Texte vorlesen zu lassen. Die leichte und intelligente Hilfe erweist sich nicht nur im Studienalltag als sehr hilfreich.
7. Seminare und Vorlesungen:
- Dozenten sensibilisieren: Spricht man im Vorfeld mit den Dozenten, werden auch die Informationseinschränkungen bei Seminaren und Vorlesungen kleiner. So ist es mittlerweile möglich, sich die PowerPoint-Präsentationen als PDF schicken zu lassen oder dass Kommilitonen Fotos von Tafelbildern machen. Menschen mit einem Restsehvermögen können diese dann mit speziellen Geräten stark vergrößern.
- Mensa und Cafeteria: Wer lernt, bekommt Hunger und Durst. Da sich blinde Studentinnen und Studenten nicht schnell einen Kaffee oder Tee holen können, sind die Online-Speisepläne der Mensa für die Planung immer hilfreich und auch Selbstmitgebrachtes erleichtert den Pausenalltag.
- Arbeitsraum für Blinde: In manchen Universitäten wie Marburg oder Kassel gibt es einen Arbeitsraum nur für Blinde, der mit einen PC mit Vorlesesystem ausgestattet ist. Dort kann man sehr gut lernen, da besonders in der Klausurphase freie Arbeitsplätze in der Bibliothek, wo das Vorlesesystem niemanden stört, knapp sind.
8. Die Literaturbeschaffung und das Lesen
Die Literaturbeschaffung und -verwertung ist das komplizierteste Thema beim Studieren für Menschen mit Sehbehinderung. Hier geht es um Kommunikation, Selbstorganisation und Eigeninitiative – für viele eine echte Herausforderung. Schön ist, dass viele Texte online im PDF-Format erstellt werden. Das macht die Sache leichter, denn es kann einfacher in ein Vorlese-Format gewandelt werden. Grundsätzlich ist es allerdings so, dass die Kursliteratur extra digitalisiert werden muss. Das führt dazu, dass sie oft erst in der Mitte oder am Ende des Semesters vollständig zur Verfügung steht.
Andererseits ist es so, dass viele Literaturquellen bisher nicht in Blindenschrift verfügbar sind. Dafür gibt es aber in Dortmund einen Online-Katalog, der barrierefrei ist und stetig wächst. Auch in Kassel gib es einen Literaturumsetzungsdienst. Schon als sehender Studierender geht viel Zeit mit der Literaturrecherche ins Land. Das ist für Studierende mit Sehbehinderung noch einmal schwerer und zeitaufwändiger. Hilfreich sind hier die Studienassistent*innen und die individuellen Angebote der Universitäten.
9. Mentale Kraft
Wie in den meisten Studiengängen geht es darum, diesen Weg zu gehen und durchzuhalten. Da die Belastung für Blinde beim Studieren größer ist, ist Unterstützung so wichtig. Begleiterinnen und Begleiter, die Kraft spenden und Hilfe anbieten, erleichtern das Studium ungemein. Das können sehende Kommilitonen sein, Freunde, Lebenspartnerinnen und Institutionen oder Stiftungen und Stipendien. Hier ist wie überall Kommunikation der Schlüssel, auch wenn es um das Thema Freizeit geht. Warum sollten Blinde keine Freude auf einer Party haben? Gefragt werden ist für sehbehinderte Menschen ebenso wichtig wie für Sehende. Also einfach die Berührungsängste auf beiden Seiten minimieren, so gut es geht und jeden Tag daran arbeiten.
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