Mein Blind Date mit dem Leben – die Geschichte von Saliya Kahawatte
2018-07-10 | Von Orcam Staff
Die Geschichte von Saliya Kahawatte klingt unglaublich. Er verlor mit 15 Jahren fast seine gesamte Sehkraft durch eine Netzhautablösung, verheimlichte seine Sehbehinderung dann jahrelang und machte dennoch erfolgreich Karriere im Hotel. Wir haben den außergewöhnlichen Autor und Unternehmer getroffen.
Sali, was genau passierte mit deinen Augen als du 15 warst – wie hast du gemerkt, dass was nicht stimmt?
Ich sollte zum Ende der 9. Klasse im Jahr 1985 ein Referat in Geografie über Indonesien vor der Klasse halten. Den Text hatte ich stichpunktartig am Tag vorher auf einem Zettel notiert, um mich daran dann orientieren zu können. Ich stand schwitzend vor meinen Mitschülern und konnte die Wörter auf dem Zettel nicht mehr erkennen – alles war verschwommen. Alle lachten mich aus. Der Lehrer gab mir für das Referat eine sechs. Ich war darüber sehr traurig und erfuhr kurz darauf in der Augenklinik, dass ich über Nacht den Großteil meines Augenlichts verloren hatte. Die Nachricht traf mich wie ein Schlag.
Wann war dir klar, dass es sich um eine sehr starke Seheinschränkung handelt, die vermutlich irreparabel sein wird? Was konntest du zum damaligen Zeitpunkt noch sehen?
In der Augenklinik versuchte man mit Laseroperationen mein Sehvermögen wiederherzustellen. Es war zu spät! Seither ist die Welt für mich grau und verschwommen, Umrisse und Schatten konnte ich damals noch gut erkennen. Ich bekam meinen Schwerbehindertenausweis und wusste, dass sich mein Leben nun ändern würde. Mit starken Lupen versuchte ich in meinen Schulbüchern zu arbeiten und kam nur mühsam voran. Nachmittags lasen mir meine Schwester und meine Mutter meine Schulbücher vor.
Wem hast du nach der Diagnose davon erzählt?
Mein gesamtes Umfeld wusste von meiner hochgradigen Sehbehinderung. Meine Familie, Freunde, Lehrer und meine Klassenkameraden, sie waren alle eingeweiht. Oft hatte ich das Gefühl, dass alle damit irgendwie überfordert waren. In der Schule fühlte ich mich ausgegrenzt. Oft hatte ich Angst irgendwann auf mich allein gestellt zu sein.
Du hast dann mit der Sehbehinderung eine Lehre im Hotel begonnen. Wie viele wussten von deiner besonderen Situation und wie ist es dir gelungen es geheim zu halten?
Ich hatte in der Ausbildung einen Auszubildenden, der mit mir zur selben Zeit im Hotel angefangen hatte. Sein Name war Max und er half mir so gut er konnte. Er war der Einzige, der von meiner Situation wusste. Vieles machte ich anders als meine sehenden Auszubildenden. Ich hörte am Klang eines Glases, ob es richtig poliert war oder nicht. Ich hatte alle Artikelnummern auswendig gelernt und konnte so Bestellungen in die Kasse eingeben, ohne die Nummern von Zetteln abzulesen, die über der Kasse hingen.
Für sehende Menschen klingt es erstmal unglaublich, dass man den Alltag in einem Restaurant mit den Wegen, der Menükarte und dem Glas Wein bewältigen kann, wenn man kaum etwas sieht. Wie geht das?
Ich prägte mir die Zahl der Treppenstufen genau ein und erkannte am Bodenbelag, wo genau ich mich im Restaurant befand. Die Menükarte hatte ich im Kopf, ich brauchte nichts nachschlagen. Schnell entwickelte ich das Gefühl wie viel Flüssigkeit in welcher Zeit aus einer Flasche floss und ich lernte Wein korrekt in Gläser auszuschenkenden – ohne es zu sehen.
Gab es nie Situationen, wo es eigentlich klar hätte auffallen müssen?
Immer wenn ich das Restaurant saugen sollte, lagen am Ende meiner Arbeit noch überall Krümel auf dem Boden – immer wurde ich dafür gerügt. Auch wenn ich die Spiegel an der Bar poliert hatte, waren diese nie zu 100 Prozent poliert. Mein Ausbilder ermahnte mich wöchentlich mehrmals und empfahl mir mal zum Augenarzt zu gehen.
Du wirkst immer sehr taff und humorvoll – sind das die Eigenschaften, die dich deinen speziellen Weg so haben gehen lassen?
Wenn man im Leben ein Problem hat, dann bleiben einem zwei Optionen. Entweder man ist Teil des Problems oder wird Teil der Lösung. Ich habe mich für das Letztere entschieden und es nie bereut. Dabei kommt es jedoch auf die richtige Haltung an. Ich betrachte mich nicht als behindert, sondern als körperlich herausgefordert.
Wie und warum hast du irgendwann dein Schweigen gebrochen? Gab es da einen konkreten Auslöser und wenn ja, welcher?
Mein Lügenspiel forderte seinen Preis und machte mich am Ende sehr unglücklich. Ich brannte total aus. Über die Jahre wurde mehrfachabhängig, machte am Ende einige Selbstmordversuche und landete in der geschlossenen Psychiatrie. Hier beschloss ich das Lügen zu beenden und wollte zu meiner Behinderung stehen.
Wie und wie schnell hat sich dein Leben seitdem verändert?
Nach dem Studium der Betriebswirtschaft machte ich mich 2006 ohne Kapital aus ALG II heraus selbstständig. Ich beschloss meine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Im Jahr 2009 erschien meine Autobiografie „Mein Blind Date mit dem Leben“ und schaffte es auf die Bestseller-Liste. Meine Story wurde 2017 Stoff für einen Kinofilm, der um die Welt ging. Heute kann ich über mich sagen, dass ich ein glücklicher Mensch bin.
Wenn man dich in Interviews beobachtet, schaust du dem Interviewer sehr gezielt ins Gesicht – Wie viel kannst du heute noch sehen?
Ich erfasse die Stimme meines Gegenübers mit meinen Ohren und versuche meinen Blick dann ca. dreißig Grad über der Schallquelle zu positionieren. Viele Menschen denken dann ich würde sie ansehen. Es gelingt mir nicht immer perfekt, aber ich übe fleißig weiter.
Du hast die OrCam MyEye-Kamera ausprobiert. Was ist dein Eindruck von diesem digitalen Helfer und arbeitest du im Alltag auch anderswo mit technischen oder analogen Hilfsmitteln?
Ich arbeite seit einiger Zeit mit der Orcam MyEye und nutze das Gerät im Alltag beim Einkaufen oder im Fitness-Studio, aber auch geschäftlich im Büro, bei Kunden und auf Geschäftsreisen. Für mich bietet das Gerät eine effektive Unterstützungsleistung, die ich punktuell abrufen kann, wenn ich in eine Situation komme, in der mich mein Sehrest nicht mehr weiterbringt. Das Erfassen von Texten, die Gesichtserkennung, die Geldscheinerkennung und sogar das Erkennen von Barcodes sind echte „Hingucker“!
Deine Geschichte wurde ja sogar verfilmt, hast du erzählt. Wie findest du selbst den Film und hat Kostja Ullmann dich so vertreten, dass du sagst: „Ja, das war eine gelungene Sali-Kopie?“
Ich habe Kostja drei Wochen persönlich auf seinen Einsatz vorbereitet. Ich wies ihn ein in meine Welt. Er schnitt Zwiebeln mit verbundenen Augen, mixte Drinks und deckte Tische im Dunkeln ein. Von Woche zu Woche wurde er besser und am Ende richtig gut. Ja, ich muss gestehen, da draußen läuft eine Kopie von Saliya Kahawatte umher 🙂
Was machst du heute beruflich und was sind deine nächsten größeren Projekte?
Ich arbeite heute als Business Coach, Motivationstrainer und Vortragsredner. Daneben bin ich noch immer Schriftsteller und unterstütze mit der Saliya Foundation Menschen mit Augenproblemen in Deutschland. Aktuell produziere ich mein zweites Kochbuch und beginne dann mit einem Roman.
Wir danken dir für das Gespräch, lieber Saliya Kahawatte.
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